Waschbären werden von zahlreichen Menschen als sympathische und possierliche Tiere wahrgenommen. Gleichzeitig werden in der Fachwelt seit Jahren kontrovers die ökologischen Auswirkungen des ursprünglich aus Nordamerika stammenden Waschbären in Europa – insbesondere in Deutschland – diskutiert. Mittlerweile belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien aus dem In- und Ausland die vielfältigen negativen Auswirkungen von Waschbären auf heimische Arten und Ökosysteme. Aktuelle Schätzungen gehen von einem Bestand von 1,6 bis 2 Millionen Tieren in Deutschland aus. Damit zählt der Waschbär heute zu den häufigsten wildlebenden Raubsäugern in Zentraleuropa. Die positive öffentliche Wahrnehmung dieser Art als „putziger Neubürger“ wird jedoch zunehmend von den durch sie verursachten ökologischen und wirtschaftlichen Schäden überlagert. Die tatsächliche Ausbreitung und Wirkung des Waschbären ist hochkomplex – und wird in der öffentlichen Debatte allzu oft durch verharmlosende Narrative verzerrt.
In dieser Stellungnahme setzen wir uns mit den häufigsten Missverständnissen und Darstellungen zum Thema auseinander. Wir beleuchten, wie gängige „Mythen“ durch fehlende Informationen entstanden sind, wie bestimmte Quellen fehlinterpretiert oder verkürzt wiedergegeben werden, und ordnen diese nachvollziehbar ein. Wir fassen den aktuellen Wissenstand komprimiert zusammen, gestützt auf geprüfte Quellen, die wir transparent angeben und verlinken. Dies ermöglicht dem Leser eine faktenbasierte und wertneutrale Einschätzung von Äußerungen und Statements. Unser Ziel ist es, die Debatte um den Waschbären auf eine fundierte Grundlage zu stellen – und so einen Beitrag zu einem wissenschaftlich fundierten Natur- und Artenschutz für die Erhaltung bedrohter Arten und Ökosystemen zu leisten.
Das vollständige Positionspapier steht als PDF-Dokument zur Verfügung und enthält sämtliche Quellenangaben.
Aussage 1 – Waschbären gehören zu den einheimischen Wildtieren
Das natürliche Verbreitungsgebiet des Waschbären (Procyon lotor) erstreckt sich über Nord- und Mittelamerika. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Art jedoch mehrfach – sowohl absichtlich als auch unbeabsichtigt – in verschiedenen europäischen und asiatischen Ländern eingeführt.
Ursprung der europäischen Verbreitung ist historisch bedingt Deutschland, wo Waschbären 1934 am Edersee (Hessen) und 1945 bei Wolfshagen (Strausberg, Brandenburg) in die Naturräume eingeführt wurden. Deutschlandweit zeigte sich in der Folge ein massives Populationswachstum: Insbesondere die äußerst flexible Ernährungsweise, die anpassungsfähige Nutzung unterschiedlichster Lebensräume, ihre hohe Fortpflanzungsrate sowie das Fehlen natürlicher Feinde begünstigten eine exponentielle Ausbreitung. Inzwischen besiedelt der Waschbär nahezu flächendeckend alle Landschaftstypen und Regionen in Deutschland, welches heute das Kerngebiet seines europäischen Vorkommens ist.
Gemäß geltender Naturschutzgesetzgebung wird der Waschbär auf nationaler und europäischer Ebene als invasive Art eingestuft. Dies bedeutet, dass diese Art nicht nur gebietsfremd ist, sondern auch unerwünschte Auswirkungen verursacht. Durch die EU-Verordnung (EU) Nr. 1143/2014 in Verbindung mit der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1141 ist der Waschbär im Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) als invasive Art mit Auflagen zum Management juristisch verankert.
- EU-Verordnung 1143: http://data.europa.eu/eli/reg/2014/1143/oj
- EU Durchführungsverordnung: http://data.europa.eu/eli/reg_impl/2016/1141/oj
- Nehring S (2018): Warum der gebietsfremde Waschbär naturschutzfachlich eine invasive Art ist – trotz oder gerade wegen aktueller Forschungsergebnisse. Natur und Landschaft, 93, 453–461. https://doi.org/10.17433/9.2018.50153629.453-461
- Nehring S, Skowronek S (2023): Die invasiven gebietsfremden Arten der Unionsliste der Verordnung (EU) Nr. 1143/2014 – Dritte Fortschreibung 2022. BfN-Schriften 654. Bundesamt für Naturschutz, Bonn. https://doi.org/10.19217/skr654
- Fischer ML, Salgado I, et al. (2017): Multiple founder effects are followed by range expansion and admixture during the invasion process of the raccoon (Procyon lotor) in Europe. Diversity and Distributions, 23, 409–420. https://doi.org/10.1111/ddi.12538
Aussage 2 – Waschbären sind harmlos und richten keine Schäden an
Auch wenn Waschbären ursprünglich strukturreiche Wälder bevorzugen, nutzen sie infolge der exponentiellen Populationszunahme sowie der zunehmenden Landschaftszerschneidung vermehrt urbane (Städte) und rurale (Dörfer, landwirtschaftlich geprägte Regionen) Gebiete als Lebensraum. In diesen menschlich geprägten Räumen finden sie vielfältig nutzbare Habitatressourcen, was sich in hohen Populationsdichten niederschlägt. Ungeachtet ihres „possierlichen“ Aussehens können Waschbären dabei erhebliche Probleme verursachen – insbesondere in Städten und dicht besiedelten Gebieten. Sie dringen in Schuppen, Häuser und Dachböden ein, hinterlassen Urin und Kot (Latrinenplätze), verursachen Lärm und richten teils massive Gebäudeschäden an. Gleichzeitig findet in vielen Städten kaum noch Jagd statt, da sie dort rechtlich stark eingeschränkt ist und gesellschaftlich zunehmend abgelehnt wird – was zur ungestörten Ausbreitung der Tiere beiträgt. Inzwischen haben sich auf die Abwehr von Waschbären spezialisierte Firmen etabliert, um Wohnhäuser und andere Gebäude zu schützen.
So sind Städte nicht mehr nur „Ausweichhabitate“ für Waschbären, sie fungieren auch – aufgrund der verbesserten Umweltbedingungen – als Lebensräume, in denen sich die Tiere dauerhaft ansiedeln, erfolgreich vermehren und in umliegende Naturräume ausbreiten. In Städten wie Kassel leben mittlerweile schätzungsweise über 100 Waschbären pro 100 Hektar – eine der höchsten Populationsdichten in Europa. Mülltonnen, Dachböden, Gärten und Parkanlagen bieten ideale Bedingungen für Schlafplätze, Nahrung und Fortpflanzung. Der städtische Raum ist somit ein fester Bestandteil ihres Lebensraums geworden.
Dabei endet ihre Präsenz nicht an den Stadtgrenzen – auch in ländlich geprägten Regionen ist der Waschbär mittlerweile weit verbreitet und tritt dort zunehmend als Problemart in Erscheinung. Es ist ebenfalls bekannt, dass Waschbären erhebliche Schäden in der landwirtschaftlichen Produktion (z.B. beschädigte Siloballen, Maispflanzen, Obstpflanzen) verursachen können.
Auch wenn der Waschbär nicht zu den invasiven Arten mit den weltweit höchsten wirtschaftlichen Schäden zählt, bedeutet das nicht, dass von ihm keine relevanten Belastungen ausgehen. Eine Anfrage an den Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) ergab, dass waschbärbedingte Schäden bislang nicht gesondert erfasst werden – anders als beispielsweise Wildschäden, Wildunfälle, Marderschäden oder Wolfsrisse. Dieses Defizit erschwert eine sachliche und fundierte Bewertung der durch Waschbären verursachten Schäden. Es besteht daher dringender Handlungsbedarf, solche Schäden systematisch in die Versicherungsstatistik aufzunehmen, um eine objektive Grundlage für weitere Bewertungen und Managemententscheidungen zu schaffen.
- Beasley JC, DeVault TL, Retamosa MI, Rhodes OE (2010): A hierarchical analysis of habitat selection by raccoons in northern Indiana. Journal of Wildlife Management, 71, 1125-1133. https://doi.org/10.2193/2006-228
- Michler FU, Hohmann U (2005): Investigations on the ethological adaptations of the raccoon (Procyon lotor L., 1758) in the urban habitat using the example of the city of Kassel (North Hessen, Germany), and the resulting conclusions for conflict management. https://www.projekt-waschbaer.de/fileadmin/user_upload/Poster-IUGB-Hannover-2005_2.pdf
- Cunze S, Schneider G, Peter N, Klimpel S (2025): Linking patterns to processes: Using hunting bag data to classify raccoon (Procyon lotor) invasion stages in Germany since the 2000s. Ecological Indicators, 175, 113568. https://doi.org/10.1016/j.ecolind.2025.113568
- Beasley JC, Rhodes OE (2008): Relationship between raccoon abundance and crop damage. Human–Wildlife Interactions, 2(2), Article 19. https://doi.org/10.26077/g4bp-bd34
Aussage 3 – Waschbären gefährden keine heimischen Arten
Tatsächlich stehen zahlreiche heimische Tierarten durch Waschbären zunehmend unter Druck. Besonders betroffen sind Amphibien, Reptilien, boden- und höhlenbrütende Vogelarten, horstabhängige Vögel und höhlenbewohnende Säugetiere (z.B. Fledermäuse). Studien zeigen, dass Waschbären bevorzugt jene Tierarten nutzen, die saisonal verfügbar und leicht zugänglich sind. Da in natürlichen Lebensräumen im Frühjahr nur wenig energiereiche Nahrung zur Verfügung steht, werden oft Brutstätten – etwa Laichgewässer von Amphibien – verstärkt aufgesucht.
Die Prädation fällt dabei häufig in die Fortpflanzungs- und Aufzuchtzeiten heimischer Arten, was zu erheblichen Bestandsrückgängen führen und regionale Reproduktionsstätten dauerhaft gefährden kann. So geraten amphibische Arten zusätzlich unter Druck, da ihre Reproduktionsstätten vielerorts bereits durch klimabedingte Trockenheit beeinträchtigt sind.
Studien und Beobachtungen belegen, dass Waschbären gezielt Jungtiere von Arten wie Eulen, Störchen sowie zahlreichen Boden- und Höhlenbrütern aufspüren. Dabei verfallen sie häufig in eine Art übersteigerten Jagdtrieb und töten mitunter komplette Gelege oder Nester – obwohl sie davon nur einen Bruchteil verwerten. Dieses Verhalten übersteigt den eigentlichen Nahrungsbedarf deutlich. Artenschützer und Naturschutzverbände berichten regelmäßig von einem erhöhten Prädationsdruck auf gefährdete Arten in betroffenen Regionen.
- Schneeweiß N, Wolf M (2009): Neozoen – eine neue Gefahr für die Reliktpopulationen der Europäischen Sumpfschildkröte in Nordostdeutschland. Zeitschrift für Feldherpetologie, 16, 163–182. https://laurenti.de/pdf-Dateien/2009-02%2002-Schneewei%DF%20&%20Wolf-abstract.pdf
- Günther E, Hellmann M (2002): Starker Bestandsrückgang baumbrütender Mauersegler Apus apus im nordöstlichen Harz (Sachsen-Anhalt) – War es der Waschbär Procyon lotor? Ornithol Jber Mus Heineanum, 20, 81–98. https://www.zobodat.at/pdf/Ornith-Jber-Heineanum_20_0081-0098.pdf
- Nehring S (2018): Warum der gebietsfremde Waschbär naturschutzfachlich eine invasive Art ist – trotz oder gerade wegen aktueller Forschungsergebnisse. Natur und Landschaft, 93, 453–461. https://doi.org/10.17433/9.2018.50153629.453-461
- Helbig D (2011): Untersuchungen zum Waschbären (Procyon lotor Linné, 1758) im Raum Bernburg. Naturschutz im Land Sachsen-Anhalt, 48, 3–19. https://d-nb.info/1080369740/34
- Peter N, Schantz AV, Dörge DD, Steinhoff A, Cunze S, Skaljic A, Klimpel S (2024): Evidence of predation pressure on sensitive species by raccoons based on parasitological studies. International Journal for Parasitology: Parasites and Wildlife, 24, 100935. https://doi.org/10.1016/j.ijppaw.2024.100935
- Schneeweiß N (2016): Waschbären (Procyon lotor) erbeuten Erdkröten (Bufo bufo) in großer Zahl am Laichgewässer. Zeitschrift für Feldherpetologie, 23, 203–212. https://shop.laurenti.de/media/pdf-Dateien/ZfF2016-2-05%20-%20Schneeweiss-abstract.pdf
- Nicolai B, Mammen U, Stubbe M (2009): Zur aktuellen Bestandssituation des Rotmilans (Milvus milvus) im Dichtezentrum seines Areals. Populationsökologie Greifvogel- und Eulenarten, 6, 205–216. https://is.gd/lyzIuj
- Beinlich B (2012): Management des Waschbären (Procyon lotor) in Schutzgebieten des Kreises Höxter (NRW). Beiträge zur Naturkunde zwischen Egge und Weser, 23, 71–81. https://is.gd/ERXDOS
- Webcamaufnahme Überprädation: https://uhu.webcam.pixtura.de/beide-junguhus-vom-waschbaeren-gefressen/
- Bundesamt für Naturschutz: https://neobiota.bfn.de/
Aussage 4 – Über den Waschbären ist doch schon alles gesagt
Wissenschaft ist kein statischer Zustand – sie lebt von kontinuierlichem Erkenntnisgewinn, der Verifizierung von bereits erhobenen sowie der Generierung neuer Daten und der Bewertung dynamischer Entwicklungen. Gerade beim Waschbären hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren vieles grundlegend verändert: So hat sich beispielsweise die Zahl der erlegten Tiere seit 2005 im Durchschnitt vervierfacht. Früher eher regional begrenzt, breitet sich der Waschbär inzwischen unkontrolliert aus – nicht nur in Deutschland, sondern auch darüber hinaus.
Solange ein Gebiet genug Nahrung sowie Lebensraum für eine Art bietet und kaum natürliche Regulationsmechanismen vorhanden sind, wächst ihre Population weiter – und genau das beobachten wir aktuell in vielen Regionen. Die heutige Populationsdynamik des Waschbären mit jährlich über 200.000 erlegten Tieren bei gleichzeitig steigender Ausbreitung verdeutlicht, dass ältere Einschätzungen nicht mehr ausreichen, um die derzeitige Situation zu bewerten. Neue wissenschaftliche Daten sind deshalb unerlässlich, sowohl um realistische ökologische Folgen abzuschätzen, als auch, um geeignete Maßnahmen ableiten zu können. Wer sich auf Erkenntnisse von gestern verlässt, ignoriert die Realität und gefährdet den Schutz heimischer Arten.
- Cunze S, Schneider G, Peter N, Klimpel S (2025): Linking patterns to processes: Using hunting bag data to classify raccoon (Procyon lotor) invasion stages in Germany since the 2000s. Ecological Indicators, 175, 113568. https://doi.org/10.1016/j.ecolind.2025.113568
- Fischer M (2016): Besiedlungsprozesse und Auswirkungen des Waschbären (Procyon lotor L., 1758) in Deutschland. Dissertation, Universität Trier. https://ubt.opus.hbz-nrw.de/opus45-ubtr/frontdoor/index/index/docId/741
- Heddergott M, Lippert S, Schliephake A et al. (2023): Spread of the Zoonotic Nematode Baylisascaris procyonis into a Naive Raccoon Population. EcoHealth 20, 263–272. https://doi.org/10.1007/s10393-023-01655-6
Aussage 5 – Waschbären vermehren sich schneller, wenn man sie bejagt
Dieses oft genutzte Argument basiert auf einer Fehlinterpretation der Studie von Robel et al. aus dem Jahr 1990 und wird seitdem regelmäßig wiederholt und als Fakt genutzt. Robel schreibt selbst in seiner Studie die folgende Schlussfolgerung:
„Zusammenfassend zeigen die während dieser Studie gesammelten Daten, dass eine stärkere menschliche Störung die Sterblichkeit in Waschbärpopulationen erhöht, wie von Sanderson (1987) vorgeschlagen. Unbekannt ist jedoch, welche Aspekte der menschlichen Störung (Fallenstellen, Jagd, Fahrzeugverkehr etc.) den größten Einfluss auf die Sterblichkeit in Waschbärpopulationen haben und inwieweit eine erhöhte Sterblichkeit durch zusätzliche Fortpflanzungsaktivität in der Population ausgeglichen werden kann.“ (Originalzitat aus dem Englischen übersetzt)
Bisher gibt es keinerlei umfassende wissenschaftliche Studien oder validierte Daten, die darauf deuten, dass eine Bejagung zu einem „Vermehrungsschub“ bei Waschbären führt.
- Robel RJ, Barnes NA, Fox LB (1990): Raccoon Populations: Does Human Disturbance Increase Mortality? Transactions of the Kansas Academy of Science, 93(1/2), 22–27. https://doi.org/10.2307/3628125
- Volmer K, Müller F (2020): Reproduktionsmedizinische Untersuchungen an weiblichen Waschbären aus Hessen. Beiträge zur Jagd- und Wildforschung, 45, 215–224. https://is.gd/eeu05S
- Clark WR, Fritzell EK (1992): A Review of Population Dynamics of Furbearers. In: McCullough DR, Barrett RH (Hrsg.), Wildlife 2001: Populations. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-011-2868-1_68
Aussage 6 – Waschbären leben in einem Matriarchat – ältere Weibchen kontrollieren die Fortpflanzung der Gruppe
Diese Behauptung ist wissenschaftlich nicht belegt und daher derzeit nicht seriös haltbar. Sie geht davon aus, dass Waschbären in streng hierarchischen, von älteren Weibchen geführten Gruppen leben, und dass durch das gezielte Erlegen solcher „Leittiere“ jüngere Weibchen früher geschlechtsreif werden – was wiederum zu einer verstärkten Fortpflanzung führen soll – in etwa so wie es bei Wildschweinen der Fall ist.
Tatsächlich zeigen verhaltensökologische Studien ein ganz anderes Bild: Weibliche Waschbären leben nicht in festen Sozialverbänden, sondern in losen, dynamischen Gruppen, die sich vor allem zur Nahrungssuche temporär zusammenschließen. Dieses soziale System wird in der Wissenschaft als „Fission-Fusion“-Struktur bezeichnet – es ist geprägt durch wechselnde Gruppenzusammensetzungen ohne stabile Hierarchie. Ein dominantes Leittier oder eine „matriarchale Struktur“ existiert nicht. Die Fortpflanzung weiblicher Tiere erfolgt individuell, nicht sozial gesteuert. Manche Weibchen pflanzen sich bereits im ersten Lebensjahr fort, andere erst im zweiten. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass die Entnahme älterer Weibchen zu vermehrter oder verfrühter Reproduktion jüngerer Tiere führt.
- Hauver S, Hirsch BT, Prange S, Dubach J, Gehrt SD (2013): Age, but not sex or genetic relatedness, shapes raccoon dominance patterns. Ethology, 119, 769-778. https://doi.org/10.1111/eth.12118
- Schuttler SG, Ruiz-López MJ et al. (2015): The interplay between clumped resources, social aggregation, and genetic relatedness in the raccoon. Mammalian Biology – Mammalian Research, 60, 365–373. https://doi.org/10.1007/s13364-015-0231-3
- Prange S, Gehrt SD, Hauver S (2011): Frequency and duration of contacts between free-ranging raccoons: uncovering a hidden social system. Journal of Mammalogy, 92(6), 1331–1342. https://doi.org/10.1644/10-MAMM-A-416.1
- Hohmann U, Bartussek I (2001): Der Waschbär. Reutlingen: Verlag-Haus Oertel + Spörer. ISBN: 978-3-88627-319-5
- Michler FU, Hohmann U, Stubbe M (2004): Aktionsräume, Tagesschlafplätze und Sozialsystem des Waschbären (Procyon lotor Linné 1758) im urbanen Lebensraum der Großstadt Kassel (Nordhessen). Beiträge zur Jagd- und Wildforschung, 29, 257–273. https://is.gd/yqtkju
Aussage 7 – Man könnte doch Waschbären kastrieren
Die Idee einer flächendeckenden Kastration von Waschbären wird immer wieder als vermeintlich tierschutzkonforme Maßnahme ins Spiel gebracht. Bislang ist diese Maßnahme jedoch nicht über den Status einer Idee hinausgekommen – es existieren in Deutschland weder wissenschaftliche Veröffentlichungen noch Machbarkeitsstudien, bei denen freilebende Waschbären kastriert, wieder ausgewildert und ihr Verhalten wissenschaftlich begleitet wurden.
Darüber hinaus ist der praktische und formaljuristische Aufwand erheblich: Als Wildtiere unterliegen Waschbären dem Tierschutzgesetz und Tierversuchsrecht, das bei Eingriffen wie Narkose, chirurgischer Kastration, postoperativer Versorgung und anschließender Freilassung hohe Anforderungen stellt. Die Genehmigung solcher Maßnahmen erfordert – je nach Bundesland – aufwendige tierschutzrechtliche Prüfverfahren, eine umfangreiche Logistik sowie erhebliche personelle Ressourcen. Bei einer geschätzten Population von rund zwei Millionen Tieren ist der Eingriff weder personell noch finanziell realistisch.
Ebenfalls ist nach Artikel 7 der EU-Verordnung Nr. 1143/2014 sowie § 40a Bundesnaturschutzgesetz die Freisetzung invasiver Arten nach dem Fang ausdrücklich verboten, was eine Kastration mit anschließender Auswilderung ohne aufwändige Sondergenehmigungen rechtlich ausschließt. Hinzu kommt, dass kastrierte Waschbären weiterhin Beutetiere wie Boden- und Höhlenbrüter fressen können, während unkastrierte Tiere die Population weiter aufrechterhalten. Statt an einer solchen wenig realistischen Idee festzuhalten, sollte man den Fokus auf praktikablere und wissenschaftlich gut begründete Maßnahmen legen.
- EU-Verordnung 1143: http://data.europa.eu/eli/reg/2014/1143/oj
- Bundesnaturschutzgesetz: https://www.gesetze-im-internet.de/bnatschg_2009/__40a.html
Aussage 8 – Hauskatzen sind doch viel schlimmer als Waschbären
Dieses Statement wird häufig in Diskussionen über den Einfluss von Waschbären auf die heimische Tierwelt als Gegenbeispiel genutzt – ist aber in erster Linie ein klassischer Whataboutism, der vom eigentlichen Thema ablenkt, statt es zu beleuchten. Richtig, auch Hauskatzen stellen für viele Vogel- und Kleintierarten eine ernstzunehmende Gefahr dar – vor allem dann, wenn sie unkontrolliert in großer Zahl frei herumlaufen. Diese Problematik ist wichtig, verdient aber eine eigene, differenzierte Debatte.
Während bei Hauskatzen zumindest prinzipiell eine individuelle Kontrolle durch Halterinnen und Halter möglich ist – etwa durch konsequente Wohnungshaltung oder gesicherten Freigang –, handelt es sich beim Waschbären um ein wildlebendes, nicht domestiziertes Raubtier, das sich eigenständig und unkontrolliert ausbreitet. Seine Aktivitäten lassen sich nicht durch Erziehung, Haltung oder nur bedingt durch technische Hilfsmittel einschränken, insbesondere nicht in Schutzgebieten oder auf privaten Grundstücken. Zudem sind Waschbären nachtaktiv, geschickt kletternd, intelligent und anpassungsfähig, was sie zu einem hochwirksamen Räuber für Amphibien, Reptilien, verschiedenste Vogelarten und höhlenbewohnende Säugetiere (z.B. Fledermäuse) macht – gerade in Lebensräumen, die ohnehin bereits unter anthropogenem Druck stehen. Der Vergleich mit Hauskatzen ist daher nicht geeignet, um die reale Bedrohung durch Waschbären zu relativieren.
- Baker PJ, Molony SE, Stone E, Cuthill IC, Harris S (2008): Cats about town: is predation by free-ranging pet cats Felis catus likely to affect urban bird populations? Ibis, 150, 86-99. https://doi.org/10.1111/j.1474-919X.2008.00836.x
- Trouwborst A, Somsen H (2020): Domestic cats (Felis catus) and European nature conservation law—Applying the EU Birds and Habitats Directives to a significant but neglected threat to wildlife. Journal of Environmental Law, 32, 391–415. https://doi.org/10.1093/jel/eqz035
- Lepczyk CA, Fantle-Lepczyk JE, Dunham KD, et al. (2023): A global synthesis and assessment of free-ranging domestic cat diet. Nature Communications, 14, 7809. https://doi.org/10.1038/s41467-023-42766-6
Aussage 9 – Der Mensch ist das Problem, nicht der Waschbär
Der Mensch trägt durch Lebensraumzerstörung, Umweltverschmutzung und Klimawandel die maßgebliche Verantwortung für den Rückgang zahlreicher Tier- und Pflanzenarten. In diesem Kontext ist es deshalb entscheidend, die zusätzliche ökologische Bedrohung durch invasive, gebietsfremde Arten nicht länger zu ignorieren – dies gilt auch für den charismatischen Waschbären. Menschen empfinden bestimmte Tierarten – wie zum Beispiel den Waschbären – als besonders sympathisch oder niedlich. Diese positive Wahrnehmung kann die Meinung der Menschen stark beeinflussen und sogar dazu führen, dass notwendige Maßnahmen zur Kontrolle dieser Tiere schwieriger durchzusetzen sind oder nicht umgesetzt werden.
Dennoch wirkt der Waschbär nachweislich regional als zusätzlicher Belastungsfaktor auf bereits geschwächte Populationen naturschutzrelevanter Arten. In sensiblen Lebensräumen kann er sogar zum ausschlaggebenden Auslöser für das lokale Verschwinden bestimmter Arten werden. Einmal verschwundene Arten kehren in der Regel nicht zurück. Diese irreversible Entwicklung sollte ein Umdenken anstoßen und uns dazu bewegen, Verantwortung zu übernehmen – anstatt untätig zuzusehen, wie invasive Arten die heimische Biodiversität weiter beeinträchtigen.
- IPBES (2023): Thematic Assessment Report on Invasive Alien Species and their Control of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. Roy HE, Pauchard A, Stoett P, Renard Truong T (eds.). IPBES secretariat, Bonn, Germany. https://doi.org/10.5281/zenodo.7430682
- Gedeon K, Grüneberg C, Mitschke A, Sudfeldt C, Eikhorst W, Fischer S, Flade M, et al. (2014): Atlas Deutscher Brutvogelarten. Stiftung Vogelmonitoring Deutschland. Herausgegeben von der Stiftung Vogelmonitoring und dem Dachverband Deutscher Avifaunisten. Münster. ISBN: 978-3981554335
- Beinlich B (2012): Management des Waschbären (Procyon lotor) in Schutzgebieten des Kreises Höxter (NRW). Beiträge zur Naturkunde zwischen Egge und Weser, 23, 71–81. https://is.gd/ERXDOS
- Jarić I, Courchamp F, Correia RA, Crowley SL, Essl F, Fischer A, González-Moreno P, Kalinkat G, et al. (2020): The role of species charisma in biological invasions. Frontiers in Ecology and the Environment, 18(6), 345–353. https://doi.org/10.1002/fee.2195
Wie es weitergehen sollte
Die Zuständigkeiten sind formaljuristisch eindeutig geregelt: Für die Umsetzung der Verordnung (EU) Nr. 1143/2014, der entsprechenden nationalen Regelungen und der darauf basierenden Rechtsvorschriften ist gemäß § 48a Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) die jeweils zuständige Behörde verantwortlich. Das Management und die Bearbeitung von Fragen im Zusammenhang mit invasiven Arten obliegen damit klar den exekutiven Landesbehörden.
Finanzmittel für die Bundesländer
Wir schlagen vor, den Landesbehörden Bundesmittel zur Verfügung zu stellen, um auf den aktuellen Sachstand abgestimmte Managementpläne zu entwickeln und umzusetzen. Diese müssen durch Wissenschaft sowie dem institutionellen und ehrenamtlichen Naturschutz fachlich begleitet werden und im Einklang mit geltenden Verordnungen und Gesetzen stehen. Eine Verpflichtung hierfür lässt sich auch aus der EU-Wiederherstellungsverordnung (Verordnung (EU) 2024/1991, in Kraft seit dem 18.08.2024) ableiten, welche alle Mitgliedstaaten – darunter auch Deutschland – dazu verpflichtet, geschädigte Ökosysteme systematisch zu renaturieren. Bis 2030 müssen mindestens 30 % der degradierten Lebensräume wiederhergestellt werden, bis 2040 60 % und bis 2050 sogar 90 %.
Kommt Deutschland diesen Verpflichtungen nicht nach, könnten Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische Kommission drohen, die in einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und gegebenenfalls in der Verhängung von Zwangsgeldern münden. Ein solches Versäumnis würde zudem die Glaubwürdigkeit Deutschlands im internationalen Umwelt- und Naturschutz erheblich beschädigen. Um diese Ziele zu erreichen, ist auch der Umgang mit invasiven Arten wie dem Waschbären integraler Bestandteil der geforderten nationalen Wiederherstellungspläne.
Angewandter Artenschutz für bedrohte, einheimische Arten
Aktuelle Zahlen und Erfahrungswerte zahlreicher Gebietsbetreuer belegen: Es braucht dringend aktualisierte, regional abgestimmte und synchronisierte Managementpläne – denn es hat sich bereits gezeigt, dass sich Bestände sensibler Arten wieder erholen, wenn Waschbären lokal entfernt werden.
Die derzeitig im „Management- und Maßnahmenblatt zu VO (EU) Nr. 1143/2014“ beschriebenen Vorgehensweisen beinhalten unter anderem das Anbringen von Überkletterschutzmanschetten an Horst- und Höhlenbäumen, Einzäunung von Vorkommensgebieten gefährdeter Arten sowie Sicherung gefährdeter Fledermausquartiere in Stollen und Gebäuden gegen das Eindringen von Waschbären. Diese Maßnahmen verfügen jedoch mitunter über Konfliktpotential, so sind beispielsweise für Zaunanlagen neben hohen Anschaffungs- und Unterhaltungkosten auch ein dauerhaftes Populationsmanagement innerhalb der Anlagen notwendig, um Überpopulationen zu vermeiden.
Das genannte Maßnahmenblatt wurde 2014 erstellt und ist seit 2016 in Kraft, seitdem erfolgte keine Aktualisierung. Somit bildet es, aufgrund der ansteigenden Waschbärpopulation und Ausbreitungsdynamik, die tatsächliche Situation nicht mehr ab. Es braucht dringend aktualisierte Leitlinien, die den realen Populationszahlen gerecht werden.
Vor dem Hintergrund des gesetzlich verankerten Artenschutzes ist der Zweck von Managementstrategien eine nachhaltige Erholung der Populationen schutzbedürftiger Arten. Wenn Fernhaltestrategien aufgrund der Gegebenheiten vor Ort nicht durchsetzbar sind oder keine Erholung der Populationen sensibler Arten nachweisbar ist, wird eine Intensivierung der Bejagung des Waschbären alternativlos.
Eine effektive Umsetzung der Bejagung kann hier nur durch die institutionelle (Forstbehörden) und private Jägerschaft erfolgen. Diese verfügt über die erforderlichen rechtlichen Befugnisse, die fachliche Expertise und das notwendige Netzwerk vor Ort. Viele private Jägerinnen und Jäger engagieren sich bereits aus naturschutzfachlicher Überzeugung im Umgang mit invasiven Arten. Dennoch wird ihre Rolle in diesem Zusammenhang gesellschaftlich oft nicht ausreichend anerkannt. Häufig sehen sie sich mit einem enormen ehrenamtlichen Aufwand, fehlender Unterstützung, Kritik aus Teilen der Bevölkerung und erheblichen privaten Ausgaben konfrontiert.
Prinzipiell kann es aber nicht Aufgabe der privaten Jägerschaft sein, als „Schädlingsbekämpfer“ den Vollzug der Verordnung (EU) Nr. 1143/2014 zu übernehmen und sich dabei der Kritik aus Teilen der Bevölkerung freiwillig auszusetzen. Für viele Jägerinnen und Jäger ist das Grund genug, ihr Engagement für das Management invasiver Arten zu reduzieren oder ganz einzustellen. Um die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben dauerhaft sicherzustellen, braucht es daher einen angemessenen strukturellen und finanziellen Rahmen. Umsetzbar ist ein Prämienmodell oder eine gezielte Förderung, die sowohl den Aufwand anerkennt als auch einen realistischen Anreiz für eine kontinuierliche Beteiligung schafft.
- Côté IM, Sutherland WJ (2002): The Effectiveness of Removing Predators to Protect Bird Populations. Conservation Biology, 11, 395-405. https://doi.org/10.1046/j.1523-1739.1997.95410.x
- EU-Verordnung 1143: http://data.europa.eu/eli/reg/2014/1143/oj
- Management- und Maßnahmenblatt zu VO (EO) Nr. 1143/2014: https://natureg.hessen.de/resources/recherche/HLNUG/Invasive_Arten/Ma%C3%9Fnahmen_Invasive_Arten.pdf
- Nehring S, Skowronek S (2023): Die invasiven gebietsfremden Arten der Unionsliste der Verordnung (EU) Nr. 1143/2014 – Dritte Fortschreibung 2022. BfN-Schriften 654. Bundesamt für Naturschutz, Bonn. https://doi.org/10.19217/skr65
Aufklärungsbedarf „Invasive Arten“
Wir haben in Deutschland mit dem Bundesnaturschutzgesetz, der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, der Bundesartenschutzverordnung sowie korrespondierender Gesetze und Verordnungen der Bundesländer die gesetzliche Verpflichtung, proaktiv Naturschutzmaßnahmen umzusetzen. Wenn man folglich das gesetzlich verankerte Ziel „Schutz der Artenvielfalt“ ernst nimmt, kann man den Waschbären nicht als Bereicherung für die Natur ansehen, und man muss – auch gesellschaftlich – umdenken und wirkungsvolle Managementstrategien behördlich unterstützen und umsetzen.
Gesellschaftliche Akzeptanz ist der zentrale Baustein für den Erfolg solcher Maßnahmen. Um diese zu erreichen, braucht es breitgefächerte und zielgruppenorientierte Aufklärungskampagnen, transparente Kommunikation und eine klare Vermittlung der naturschutzfachlichen Faktenlage. Viele Menschen nehmen Waschbären als charmante Stadtbewohner oder gar als schützenswert wahr – eine Sichtweise, die in der Realität den ökologischen Folgen ihrer Ausbreitung nicht gerecht wird. Es ist daher essenziell, emotionale Narrative durch fundierte Information zu ergänzen und bestehende Wissenslücken zu schließen. Nur wenn die Bevölkerung versteht, warum Managementmaßnahmen notwendig sind, kann sie diese mittragen und langfristig unterstützen.
Wir appellieren an alle, die Verantwortung für unsere heimische Artenvielfalt tragen – an Mitarbeiter der Landesbehörden und Forschende, die sich mit invasiven Arten beschäftigen, an Naturschutzverbände sowie an spezialisierte Schutzinitiativen für Amphibien, Reptilien und Vögel, an politische Entscheidungsträger und nicht zuletzt an die Bürgerinnen und Bürger: Informieren Sie sich faktenbasiert, hinterfragen Sie gängige Narrative – dies gilt insbesondere für regelmäßig wiederholte Fehlinformationen. Nur durch gemeinsames, entschlossenes und sachlich fundiertes Handeln lässt sich der Schutz unserer heimischen Arten und Lebensräume langfristig sichern.
Waschbären erscheinen sympathisch, sind jedoch keine harmlosen Mitbewohner, sondern invasive Prädatoren, die heimische Arten regional erheblich unter Druck setzen können. Es ist notwendig, den Arten- und Naturschutz nicht länger dem Wunsch nach einer sympathischen Tierwelt unterzuordnen.
Und dies gilt nicht nur für den Waschbären – sondern für alle Fragen des Natur- und Artenschutzes.